Wir im Krieg
Privatfilme aus der NS-Zeit
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Privatfilme aus der NS-Zeit
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Nach dem Erfolg der Dokumentation „Wir im Krieg. Privatfilme aus der NS-Zeit“, die zum 80. Jahrestag des Kriegsausbuchs im August 2019 gezeigt wurde, hat Autor Jörg Müllner seine Recherchen in Stadtarchiven, Landesbildstellen und privaten Sammlungen fortgesetzt. Auch diesmal ist es ihm gelungen, erstaunliche Filmschätze zutage zu fördern: Etwa Aufnahmen einer Unternehmer-Familie aus Stuttgart, deren Firmensitz als einziges Gebäude auf dem zentralen Marktplatz die Zerstörungen des Krieges – wenngleich schwer beschädigt – überstand. Es zeigt die Angehörigen beim Versuch, ihr Wohnhaus mit einem Tarnanstrich zu schützen, aber auch bei scheinbar unbeschwerten Ausflügen ins Grüne. Oder die Farbfilme eines Zahlmeisters der Wehrmacht, der privat ein Doppelleben führte. Seine Aufnahmen bergen auch ein lang gehütetes Familiengeheimnis.

Bislang unbekannte Luftaufnahmen vermitteln Eindrücke vom Vormarsch der Wehrmacht an der Ostfront im Sommer 1942. Paul Strähle, Filmpionier aus Schorndorf bei Stuttgart, hat sie gedreht. Fliegen und Filmen machten ihn schon in den 1920er Jahren in Deutschland bekannt. Im Krieg dreht er als Offizier in der Luftaufklärung mit seiner privaten Kamera die Ostfront von oben. Seine Aufnahmen zeigen Stellungen der Roten Armee, Truppenaufmärsche, aber auch zerstörte Städte. Am Boden dokumentiert Strähle auf Farbfilm den Vormarsch der Wehrmacht im Sommer 1941 und wie sich der Krieg nach der Niederlage vor Moskau wendet. Seine Aufnahmen zeigen auch sowjetische Kriegsgefangene, die jüdische Bevölkerung vor Ort und die öffentliche Hinrichtung von Partisanen.

Das Filmmaterial eines Oberfeldarztes aus Meerane ist ebenfalls ein bemerkenswerter Archiv-Fund: Dr. Heinz Schünemann dokumentiert nicht nur sein Familienleben, sondern zeigt auch den Alltag der Soldaten an der Front. Neben Bildern von Einsätzen gibt es ungewöhnliche Aufnahmen während der Freizeit. Zu sehen sind etwa „die lustigen Landser“: Soldaten in Baströckchen, die ihre Kameraden mit einer vergnüglichen Tanzeinlage unterhalten. Sozialpsychologe Prof. Harald Welzer berichtet, dass dies keineswegs ungewöhnlich sei, denn in jedem Krieg gebe es „leere Zeiten, wo überhaupt nichts passiert“, in denen dann aber „Feste und Feierveranstaltungen bei der Truppenbetreuung“ stattfinden. Momente, die in unserem Bild vom Krieg eher weniger auftauchen“, meint Welzer.

Frühlingsblumen, Sommerfreuden, Ernteglück und Schneeballschlacht – die vier Jahreszeiten in strahlenden Farben. Filmpionier Friedrich Michel versucht dem Schrecken des Krieges in seinen Bildern bewusst etwas Schönes entgegenzusetzen und dreht für das Vorprogramm seines Kinos in Heidenheim an der Brenz aufwändige Filme von der Natur und dem Alltag der Menschen.

In derselben Stadt lebt zu dieser Zeit die kleine Doris Hurler, die mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen war. Ihre Familie kümmert sich rührend um das Kind. Private Filmaufnahmen zeigen das fröhliche Mädchen im Kreise ihrer Freunde und Angehörigen. Die Bilder wirken fast wie eine Demonstration gegen das Mordprogramm der Nazis an Menschen mit Behinderung. 1943 kommt Doris unter ungeklärten Umständen ums Leben – ihre Familie glaubt bis heute, dass Doris bei einer „Behandlung“ der „Kindereuthanasie“ zum Opfer fiel.

Auch Aufnahmen aus dem sogenannten „Judenlager Hellerberg“ bei Dresden sind in der Dokumentation zu sehen. Der Schwarzweiß-Film ist eigens dafür in hoher Qualität neu digitalisiert und restauriert worden. Ein Foto-Laborant der Firma Zeiss Ikon hatte ihn 1942 aufgenommen. Die Bilder dokumentieren das Leben der Menschen im Sammellager, bevor sie im März 1943 nach Auschwitz deportiert wurden. „Es sind besonders berührende Aufnahmen“, kommentiert Filmwissenschaftler Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann den Film: „Zum Teil sind es die letzten Blicke von Menschen, deren Namen wir nicht einmal mehr kennen.“ Nur zehn der fast 300 Gefangenen überlebten den Holocaust.

Neben Experten, wie Filmwissenschaftler Ebbrecht-Hartmann (Universität Jerusalem), Militärhistoriker Prof. Johannes Hürter (Institut für Zeitgeschichte München) und Sozialpsychologe Prof. Harald Welzer, kommen in der Doku auch Angehörige, Kinder und Enkel der damaligen Hobbyfilmer zu Wort. Sie erinnern an die Entstehungsgeschichte der Filme und an die Menschen, die dieses Erbe hinterlassen haben.

ZDFzeit Bilderserie
Produktion
History MEDIA GmbH
Ausstrahlung
6. August 2019, 20:15 Uhr im ZDF

Presseecho

Frankfurter Allgemeine Zeitung

PRIVATFILME AUS NS-ZEIT:

Fahnenappell und Hitlergruß im Urlaub

Für „Wir im Krieg – Privatfilme aus der NS-Zeit“ hat Jörg Müllner unveröffentlichte Filme gesichtet. Heute ist die Dokumentation des Wiesbadener Historikers im ZDF zu sehen.

Noch können Käthe und Erich Höse friedlich die Oder entlang paddeln. Das Leipziger Paar hat gerade geheiratet und reist in den Flitterwochen die 720 Kilometer von Ratibor flussabwärts nach Stettin, im August 1939, zwei Wochen vor Kriegsbeginn. Pittoreske Dörfer, ein Picknick am Wasser und ein Zwischenstopp in Breslau: Auf 16-Millimeter-Farbfilm halten die Höses ihren Urlaub fest, während in der Nähe des Ufers schon heimlich die Wehrmacht aufmarschiert. Es sind Bilder der erschreckenden Normalität kurz vor dem Inferno. Doch nationalsozialistische Symbolik hat längst in den Alltag Einzug gehalten. Am roten Faltboot der Höses weht eine Hakenkreuzfahne.

Ihre Aufnahmen von der Hochzeitsreise sind nicht die einzigen überraschenden in der Dokumentation „Wir im Krieg – Privatfilme aus der NS-Zeit. Sei es der junge Soldat Götz Hirt-Reger, der seine Kuscheltiere verbrennt, ehe er an die Ostfront zieht, sei es die Großfamilie im Ostseeurlaub, die sich 1938 beim privaten kleinen Fahnenappell ungezwungen mit Hitlergruß vor der Kamera inszeniert, sei es die Familie, die für den Vater und seine Filmkamera lächelnd im Luftschutzbunker Platz nimmt. Weil sie gefilmt wird? Oder ist der Gang in den Keller schon ganz normal geworden?

Jörg Müllner, Autor und Produzent des Dokumentarfilms, zeigt, wie der Alltag in der Diktatur und im Krieg aussah. Er hat den 80. Jahrestag des Kriegsbeginns am 1. September 1939 zum Anlass genommen, bislang unveröffentlichtes Filmmaterial zu sichten, und dafür vor allem nach Aufnahmen von Privatpersonen gesucht. Denn in den Dreißigerjahren kam das Filmen, sogar in Farbe, in Mode. Damals war es ein sehr teures Hobby, zehn Minuten Farbfilm kosteten rund 250 Reichsmark, das durchschnittliche Monatsgehalt eines Arbeiters betrug 150 Reichsmark. So ist die in den Filmen gezeigte Sicht eine privilegierte.

Müllner lebt seit den neunziger Jahren in Wiesbaden. Dort betreibt der 1967 geborene Historiker und Journalist aus der Oberpfalz die History Media GmbH, die „Wir im Krieg“ produziert hat. Müllner hat sich die Zeit des Nationalsozialismus intensiv vorgenommen und in mehreren Dokumentarfilmen beleuchtet. Nach „Hitlers Helfer – Eichmann“, „Hitlers Manager – Speer“, „Stalingrad“ und „Die Jahrhundertfälschung – Hitlers Tagebücher“ nun also Urlaubsbilder und Alltag im Unrechtsstaat.

Die in den Filmen gezeigte Sicht ist eine privilegierte

„Es war eine wirklich spannende Recherche“, sagt er. Wobei solche Suchen sehr trocken aussehen können: „Oft hat man endlos lange Sichtungen und findet nichts, doch dann stößt man auf eine kleine Filmdose. Trümmerfilm steht drauf, und drin ist ein 16-Millimeter-Film.“ Weil der Leuchttisch im Archiv gerade besetzt gewesen sei, habe er den Fund auf Verdacht digitalisieren lassen. Und siehe da: „Bilder aus dem zerstörten Düsseldorf von 1943 in Farbe, die nie zuvor gezeigt wurden“. Ein unvergesslicher Moment.

Müllner hat für seine Dokumentation Filme aus verschiedenen Quellen genutzt, von Privatpersonen und Sammlern, aber auch aus Landesfilmarchiven. Besonders ergiebig seien Stadtarchive, sagt er. Zum Beispiel das des kleinen Ortes Lahr im Schwarzwald. Allein dort lagern 60 Rollen mit mehr als 20 Stunden Film aus der Nazizeit, auch in Farbe. Die Filme wurden im Auftrag der damaligen Stadtverwaltung von ortsansässigen Fotografen gedreht, um den nationalsozialistischen Aufbau für die Nachwelt zu dokumentieren. Von einem weiter gestreuten Aufruf an Privatleute, Dachböden und Keller zu durchforsten, sah Müllner ab. „Schlechte Erfahrungen bei einem anderen Projekt“, sagt er. Solche Aufrufe brächten zu viele Einsendungen und zu viel Aufwand beim Sichten. Und stets gelte es zu klären, wer gedreht habe und abgebildet sei.

„Es ist eine Dokumentation im strengsten Sinne“

Manchmal ist der Zufall stärker: Bei einer Recherche zur Fastnacht in Mainz stieß Müllner auf das „umfassende Filmwerk“ von Hanns Krach aus Gonsenheim. Er habe während des Krieges viel gedreht, auch den metertiefen Krater, den eine Bombe der Royal Air Force nur wenige Schritte von seiner Villa entfernt in den Garten riss. Krach dokumentiert damit einen Wendepunkt: Der Krieg hat die eigene Haustür erreicht.

„Ich will auch Filmgeschichte zeigen“, sagt Müllner. In manchen Privataufnahmen seien die Farben brillant erhalten, bei anderen nicht. Zwar werde ein Film für das Fernsehen stets farbkorrigiert, doch an den Aufnahmen für „Wir im Krieg“ sei nichts nachkoloriert worden: „Es ist eine Dokumentation im strengsten Sinne – das Dokument soll im Mittelpunkt stehen.“ Mit Peter Jacksons neuestem Film „They Shall Not Grow Old“, der nachträglich gefärbte Aufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg zeigt, habe sein Film wenig zu tun. Nachkolorierungen seien für Historiker streng genommen nichts anderes als Dokumentenfälschung.

Unter dem, was er zeigt, sind wichtige und schockierende zeitgeschichtliche Dokumente. Reinhard Wiener aus Schlesien ist Marinesoldat und hat seine private Kamera ständig dabei. Im lettischen Libau dokumentiert er im August 1941, wie Mitglieder einer SS-Einsatzgruppe und lettische Kollaborateure Juden in den Dünen erschießen. Besonders erschüttern den Zuschauer Szenen wie die von Walther Lenger, der Hitlers Aufstieg ebenso begrüßt wie den Boykott jüdischer Geschäfte. Nicht nur wegen der Frage, ob man selbst ebenfalls mitgelaufen wäre, sondern weil Lenger, Zahlmeister der Wehrmacht, beides filmt: den neuen Bosch-Kühlschrank mit Eisfach und das sogenannte „Russenlager“ in Königsbrück bei Dresden, wo Zehntausende sowjetische Kriegsgefangene unter katastrophalen Bedingungen eingesperrt wurden und starben.

Tobias Hausdorf, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Der Krieg als Familienereignis

Privatfilme aus der NS-Zeit: Jörg Müllners Film berichtet von der Gewöhnung an die Diktatur.

(…) Die Filme stammen aus verschiedenen Quellen, von völlig unterschiedlichen Menschen aus differenten Lebenssituationen, ihre Verortungen sind heterogen, ihre Narrative fragmentarisch und stets auf das private Leben bezogen.

Aber in dem Zusammenschnitt, den Jörg Müllner mit Aussagen von Historikern und einem Off-Kommentar verbindet, zeigen sie auf bedrückend harmlose Weise das Gleiche: Sie zeigen, wie sehr und wie schnell der Nationalsozialismus den Alltag in Stadt und Land imprägnierte, wie Hakenkreuzfahnen, militärische Zackigkeit und ausgrenzendes Volksgemeinschaftsgedöns das Leben einfärben. Ein halbes Jahrzehnt genügte, um aus Deutschland Nazi-Deutschland zu machen. (…)

„Wir im Krieg“ von Jörg Müllner ist eine überaus aussagekräftige Arbeit, ein Meta-Film gewissermaßen, der nicht nur private Filme montiert, sondern auch nach den Haltungen dahinter fragt und eindrücklich zeigt, wie leicht und gern sich brave Bürger an den Horror von Diktatur und Krieg gewöhnen.

Hans-Jürgen Linke, Frankfurter Rundschau

Einblicke in das Leben ganz normaler Deutscher im NS-Regime

Flitterwochen im Aufmarschgebiet und eine Familie hisst die Hakenkreuzfahne: Überwiegend unveröffentlichtes Filmmaterial aus Privatbesitz gewährt Einblicke in das Leben der Deutschen unter Hitler. Eine sehenswerte ZDF-Dokumentation.

Der wohl bekannteste Satz des Philosophen Theodor W. Adorno lautet: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Er meinte damit, dass niemand in einem Gewaltregime wie dem Nationalsozialismus einfach so vor sich hin habe leben können. Vielleicht stimmt der Satz im moralischen Sinne; im konkreten Sinne jedoch ist er komplett falsch. Denn gerade im „falschen Leben“ sehnen sich Menschen nach Normalität.

Beispielhaft nachvollziehen kann man das an der Dokumentation „Wir im Krieg“ von Jörg Müllner, die am Dienstagabend ausgestrahlt wird. Anhand von vielfältigem, zum großen Teil bisher unveröffentlichtem Filmmaterial aus Privatbesitz zeigt der gelernte Historiker, der schon mehrere Dutzend historische Produktionen realisiert hat, wie sehr viele Deutsche, vermutlich die meisten, vor rund 80 Jahren um ein „richtiges Leben“ rangen – und wie sich doch das „falsche Leben“ immer wieder in den Vordergrund schob.

Zum Beispiel das frisch vermählte Ehepaar Grete und Erich Höse aus Leipzig. Im August 1939, ein paar Wochen vor Kriegsbeginn, machen sie sich auf in ihre Flitterwochen – 14 Tage lang per Faltboot die Oder hinauf, von Ratibor bis Stettin, insgesamt 720 Kilometer. Immer mit dabei ist eine kleine Filmkamera, bestückt mit Farbmaterial. Denn was wäre wert, mit dem noch sehr teuren Agfacolor-Film aus der Filmfabrik Wolfen für die Nachwelt festgehalten zu werden, wenn nicht die eigene Hochzeitsreise?

Die Höses folgen dabei ihrem Führer. Allerdings nicht Adolf Hitler, der zu dieser Zeit beiderseits der Oder kaum verdeckt seine Wehrmacht aufmarschieren lässt, um am 1. September 1939 den östlichen Nachbarn Polen zu überfallen. Sondern dem „Führer auf Deutschlands Wasserstraßen“, herausgegeben vom Deutschen Ruder-Verband e.V.“. Einmal hält Grete die Broschüre grinsend ihrem Ehemann vor die Kamera. Es wäre allerdings sicher übertrieben, darin irgendeine Distanzierung erkennen zu wollen.

In Müllners Dokumentation wird deutlich, wie sehr Menschen die im Nachhinein vermeintlich unübersehbaren Warnsignale ignorieren können. Der Leipziger Familie Lenger zum Beispiel, die Ende der 30er-Jahre vermutlich sorgfältig inszenierte Begebenheiten aus dem Alltag auf Farbfilm bannt, geht es gut. Nach Jahren der Depression und der schlechten Stimmung ist es seit 1933 wieder bergauf gegangen. Zunächst gefühlt, erst ab etwa 1935/36 auch real – im Zuge der auf Pump finanzierten Aufrüstung.

Wohin das führen muss, wird ignoriert: „Das interessiert nicht“, sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer in Müllners Film: „Die Alltagswirklichkeit wirft solche Fragen gar nicht erst auf.“ Welzer ist wie die anderen Experten in „Wir im Krieg“, wie Isabell Heinemann, Dietmar Süß und Janosch Steuwer, gut ausgewählt.

Denn alle befassen sich mit dem Erleben ganz normaler, kleiner Leute. Heinemann (Universität Münster) hat zum Beispiel die Bedeutung der Familie für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik beschrieben, Süß (Universität Augsburg) das individuelle Erleben des Bombenkrieges. Steuwer (Universität Zürich) hat für seine Doktorarbeit insgesamt 140 private Tagebücher ausgewertet, die Deutsche 1933 bis 1939 verfasst haben.

Welzer schließlich, der mit seinem generationenübergreifenden Interviewprojekt „Opa war kein Nazi“ 2002 die Disziplin Sozialpsychologie auf die NS-Zeit ausgedehnt hat, verdankt die Öffentlichkeit vielfältige Einblicke in das Denken von Wehrmachtssoldaten und Massenmördern. Immer wieder schafft er es, Exzesse nachvollziehbar zu beschrieben, ohne den schmalen Grad zwischen Verstehen und Verständnis zu verlassen.

Das gelingt, naturgemäß auf dem deutlich populäreren Niveau einer 45 Minuten kurzen TV-Dokumentation, auch Müllner überzeugend. Zum Beispiel bei einem kurzen Filmschnipsel, aufgenommen 1938 im Urlaub in Dreishöh an der Ostsee. Eine elfköpfige Großfamilie nimmt Aufstellung für den privaten Dreh. Zuerst wird die Hakenkreuzfahne gehisst, dann erheben zwei Erwachsene, sieben Mädchen und zwei Jungen gleichzeitig den rechten Arm. „Es steht niemand da, der sagt: ,Ihr müsst das machen, jetzt ist die Zeit, alle Familien in Deutschland salutieren um die gleiche Zeit.‘ Diese Familie macht es für sich“, sagt Heinemann. Um welche Familie es sich handelt, ist nicht überliefert.

Nur ausnahmsweise schlägt die Wirklichkeit durch. Wenn etwa der Bremer Privatfilmer Werner Hachenburg vor der laufenden Kamera zusammen mit seinem Sohn übt, wie man möglichst schnell Gasmasken überzieht. Oder wenn Hans Burscher aus Berlin festhält, wie stolz seine Frau ist, dass der gemeinsame Sohn nun die Hakenkreuz-Binde an seiner Uniform des Reichsarbeitsdienstes trägt.

Niemand weiß, wie viel ähnliches Filmmaterial noch bis heute auf irgendwelchen Dachböden der Entdeckung harrt. Privatfilme sind eine immens wichtige Quelle, um die Lebenswirklichkeit ganz normaler Deutscher zu erschließen, ebenso wie private Tagebücher. Dabei darf man weder das eine noch das andere zum Nennwert nehmen, also glauben, das dargestellte Bild entspreche vollständig oder auch nur überwiegend der Realität.

Müllner entgeht dieser Falle. Er macht dem Zuschauer deutlich, dass es sich natürlich meist um inszenierte Begebenheiten handelt, die auf Film gebannt werden. Denn Farbfilm ist teuer: Vom durchschnittlichen Monatsbruttolohn eines Arbeiters kann man gerade einmal Material für sechs Minuten kaufen.

Es gibt aber auch eher zufällige Aufnahmen, die entstehen, weil ein aufsehenerregendes Geschehen dokumentiert werden soll. Etwa Kinder, die im Zuge der Novemberpogrome 1938 den Tabakladen eines Juden zu plündern versuchen. Oder die bekannte und oft gesehene Szene einer Judenerschießung am Strand von Libau in Lettland, die der Soldat und Filmamateur Reinhard Wiener im Sommer 1941 macht. Es ist wohl das einzige authentische Filmzeugnis des eigentlichen Mordens im Holocaust.

„Wir im Krieg“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie man abseits moralisierender Pauschalurteile, wie der viel zitierten Weisheit von Adorno, die schwierige Quelle private Filme aus der NS-Zeit aufbereitet und zugänglich macht. Müllners Dokumentation zeigt, dass sich das lohnt.

Sven Felix Kellerhoff, Die Welt

Jubel, Trubel, Hakenkreuze

Die Bilder, die wir in der dreiviertelstündigen ZDF-Doku „Wir im Krieg“ sehen, erzählen zunächst nicht von Zwang und Gängelung, Angst und Schrecken, gar von Terror und Mord. Sie halten Glück, Optimismus, Zustimmung fest, ein einziges Aufschwungsglück. Und sie sind viel authentischer als die Propagandawerke des Regimes, Familiendokumente nämlich, wie schon der Untertitel verrät: „Privatfilme aus der NS-Zeit“.

Was der Historiker und Journalist Jörg Müllner mittels kleiner Häppchen aus Experten-Interviews zu einer Befindlichkeitsstudie Nazideutschlands zusammenfügt, weist noch eine andere Besonderheit auf. Diese Dokumente sind, anders als die meisten Amateuraufnahmen von einst, nicht in Schwarzweiß gedreht, sondern in Farbe. Das reißt eine Barriere zwischen dem Blick von heute und der Welt von damals nieder, das verkürzt die Distanzen, das schließt die Bilder von Sportfesten und Familienfeiern, vom Schaulustigenauflauf um Panzer und vom Fähnchenschwenken für den Führer sehr effektiv mit Bildern heutiger geselliger Freizeit kurz.

Müllner, der Gründer der Produktions\rma History Media, die oft Themen rund ums Dritte Reich bearbeitet, bleibt aber nicht bei der Vorkriegsseligkeit stehen. Er will aus dem privaten Blickwinkel heraus auch die wahre Fratze des Systems, Müllner, der Gründer der Produktions\rma History Media, die oft Themen rund ums Dritte Reich bearbeitet, bleibt aber nicht bei der Vorkriegsseligkeit stehen. Er will aus dem privaten Blickwinkel heraus auch die wahre Fratze des Systems, das Leid der Opfer, den Holocaust und den Bombenkrieg zeigen. Die Nazis in mehreren deutschen Städten haben stolz die ersten Deportationen der jüdischen Bevölkerung \lmen lassen. In „Wir im Krieg“ sind auch Bilder aus Stuttgart zu sehen, von der Abreise in den Tod vom Killesberg aus, dazu infame Propaganda, die einmal in die vom Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Strölin beauftragte „Kriegschronik“ hätte einaießen sollen. Gestellte Aufnahmen zeigen Lebensmittelüberauss in einer der in Wahrheit karg ausgestatteten Versorgungsstellen für Stuttgarts Juden, die in normalen Lebensmittelläden nicht mehr einkaufen durften.

Müllner, der Gründer der Produktions\rma History Media, die oft Themen rund ums Dritte Reich bearbeitet, bleibt aber nicht bei der Vorkriegsseligkeit stehen. Er will aus dem privaten Blickwinkel heraus auch die wahre Fratze des Systems, das Leid der Opfer, den Holocaust und den Bombenkrieg zeigen. Die Nazis in mehreren deutschen Städten haben stolz die ersten Deportationen der jüdischen Bevölkerung \lmen lassen. In „Wir im Krieg“ sind auch Bilder aus Stuttgart zu sehen, von der Abreise in den Tod vom Killesberg aus, dazu infame Propaganda, die einmal in die vom Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Strölin beauftragte „Kriegschronik“ hätte einaießen sollen. Gestellte Aufnahmen zeigen Lebensmittelüberauss in einer der in Wahrheit karg ausgestatteten Versorgungsstellen für Stuttgarts Juden, die in normalen Lebensmittelläden nicht mehr einkaufen durften.

Thomas Klingenmaier, Stuttgarter Nachrichten

Holocaust und Bombenhagel – Dokumentation zeigt, wie Bürger die Nazizeit filmten

In „Wir im Krieg – Privatfilme aus der NS-Zeit” zeigt das ZDF überraschende Aufnahmen von Hobby-Filmern. Von Reisen auf der Oder nach Stettin bis zu Bildern, die an Grausamkeit kaum zu überbieten sind.

Zehn Minuten Farbfilm für 50 Mark – in den 1930er Jahren war das viel Geld, zumal der Durchschnittslohn eines Arbeiters kaum viermal so hoch lag. Doch weil sich die ökonomische Gesamtlage wegen Adolf Hitlers Aufrüstungs- und Kriegswirtschaft gebessert hatte, lebten in der Nazidiktatur viele Menschen, die sich das Filmen gönnen konnten und somit für die Nachwelt Bilder erhalten haben, die untermauern, wie Deutschland vom Propagandaglanz bis in die 40er Jahre immer tiefer in den Abgrund geriet.

„Wir im Krieg – Privatfilme aus der NS-Zeit” nennt der TV-Autor Jörg Müllner seine Dokumentation, die das ZDF am Dienstag (6. August 2019, 20.15 Uhr) als einen Beitrag zum 80. Jahrestag des Kriegsbeginns am 1. September 1939 zeigt.

Der Historiker Müllner, der fürs ZDF bereits Filme über die NS-Zeit und den Krieg („Hitlers Helfer – Eichmann”) herstellte, hat in seinem Bericht fast ausschließlich Amateurfilme zusammengetragen. Sie sagen viel über die Stimmung im Land aus – Wissenschaftler verschiedener Universitäten ordnen die Bilder ein.

Mit dem Faltboot auf der Oder

Viel Bewegtbildmaterial stammt vom frisch vermählten Ehepaar Käthe und Erich Höse, das in den letzten Tagen des Friedens im August 1939 die gut 700 Kilometer lange Reise mit dem Faltboot auf der Oder von Ratibor im Süden bis nach Stettin im Norden zurücklegte und noch unzerstörte Städte wie zum Beispiel das schlesische Breslau ins filmische Visier nahm. „Auf der einen Seite mehren sich die Zeichen für einen Konflikt, auf der anderen hindert dies die Menschen nicht daran, ihr Leben weiterzuleben”, sagt dazu die Historikerin Isabel Heinemann aus Münster.

Diese schönen Urlaubsaufnahmen vom Faltboot mit entsetzlich qualmenden Schuten im Hintergrund muten eher noch harmlos an im Vergleich zu einem Nazi-Auflauf im badischen Lahr im Juli 1939, bei dem fast die gesamte Bevölkerung mitmischte, wie die Filme eines Amateurs, der 20 Stunden Material hinterließ, zeigen. Stadthistoriker Thorsten Mietzner habe sein Lahr „nicht wiedererkannt”, gesteht er im Interview mit dem ZDF. „Die Filme zeigen, dass die Diktatur den Konsens und das Mitmachen aller braucht.”

Zeuge des Holocaust

Ein junger Mann wird mit seiner privaten Kamera sogar zum Zeugen des Holocaust. Zunächst filmte Götz aus Leipzig noch, wie er Stofftiere aufhängte und sie verbrannte (Historikerin Heinemann: „völlig irre”). Später nahm er sein Gerät in den Krieg und dokumentierte, wie Juden gegen ihren Willen zum Schuttaufräumen in Warschau eingesetzt wurden.

Er begleitete den Russland-Feldzug mit seiner Kamera und nahm im lettischen Liepaja auf, wie die deutschen Eroberer jüdische Bewohner exekutierten – Bilder, die an Grausamkeit kaum zu überbieten sind.

In einem offiziellen Propagandafilm aus der NS-Zeit, der aus Stuttgart stammt, ist in einem Fleischergeschäft zu sehen, wie die jüdische Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgt wird – aber nur zum Anschein. Zufällig ist auf dem Film auch die junge Eva Stettinger zu sehen.

Sie wurde laut Autor Müllner kurz danach mit etwa 1000 anderen Stuttgarter Juden nach Riga transportiert und dort ermordet. Von Ruth Sara Lax ist in einem Film nur noch der Koffer zu sehen. Sie wurde im März 1942 auch in Riga Opfer von Hitlers Rassenwahn.

Bilder nach schweren Luftangriffen

Einige Chronisten ihrer Zeit filmten dann aber doch, so lange der Vorrat reichte: Walter Lenger aus Leipzig, der noch in glücklichen Tagen die prägenden Ereignisse rund um die Familie wie die Geburt des dritten Kindes festhielt, war auch beim Bombenhagel dabei, ebenso Jupp Jäger aus Düsseldorf, der Bilder nach schweren Luftangriffen machte – das war eigentlich verboten, aber seine Kamera stammte aus NS-Bestand.

Und somit wendeten viele Amateurfilmer aus der Nazizeit einfach das Blatt: Die Kamera, die im Grunde das prosperierende Reich abbilden sollte, bewahrte der Nachwelt auch die nachhaltigen Eindrücke von seinem Untergang.

dpa

Aus der Perspektive der Amateure

Während der NS-Zeit filmten Privatleute – teils in Farbe – ihre Familien, aber auch öffentliche Auftritte der NS-Kohorten. Es entsteht so im Rückblick ein anderes Bild, als es die Propaganda-Wochenschauen im NS-Staat vermittelten.

Ein Schmalfilmer aus Leipzig, später auch Wochenschau-Kameramann, filmt den Vormarsch im Osten, die Zerstörung Warschaus und den Angriff auf die Sowjetunion. Im Stuttgarter Stadtarchiv ist selbst die Judendeportation von 1941 durch Privataufnahmen dokumentiert. Und ein Marinesoldat hält in Litauen die Erschießung von Juden fest. Es ist die andere Seite, jenseits von NS-Propagandafilmen und des Siegesrauschs deutscher Wochenschauen.

Nicht zuletzt weil auch Amateurfilmer der Aufsicht der Reichsfilmkammer unterlagen, blieben viele Filme an der Oberfläche haften. Bilder von Aufmärschen und Paraden waren in der Überzahl, wenige zeigen aber auch die Bedrohung der jüdischen Bürger und den ihrer Geschäfte. Doch der Sohn, der in Uniform vom Arbeitsdienst nach Hause kommt, ist eher die Regel – ebenso wie die allgemeine Begeisterung ganzer Städte. So hat die Stadt Lahr im Schwarzwald zur NS-Zeit Filme in Auftrag gegeben, die zeigen, wie die Stadt immer mehr vom Nationalsozialismus vereinnahmt wurde. „Was dort im Kleinen geschah, ist auch im Großen geschehen“, erläutert „Wir im Krieg“-Autor Jörg Müllner.

Wilfried Geldner, Mittelbayerische Zeitung und Weser-Kurier